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1991—1996

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Nähert man sich den Eisenplastiken von Letizia Enderli, die in den frühen 90er Jahren entstanden sind, sieht man sich sogleich auf eine wundersame und unmittelbare Weise berührt: Eine schlichte Treppe führt scheinbar ins Nichts. Lägen da nicht einige Federn auf jeder Stufe, welche zum Flug in den freien Himmel laden. Zugleich begegnen uns in ebenso einfacher wie verträumter Manier der Mond und die Sterne. Was uns auf den ersten Blick als rein poetischer Akt entgegentritt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen aber alsbald als tiefergehendes Gedankenspiel von analytischem Charakter, das uns dazu auffordert, die Welt in ihrer Zeitlichkeit, unser eigenes Sein in ihr sowie unser eigenes Ich ein wenig länger zu betrachten und uns selbst hier und da eine Türe zur Welt der je eigenen verborgenen Erinnerungen zu öffnen.

«Geschichte ist das, was wir sind, indem wir es geworden sind.»

Denn nicht nur die Welt als Ganze, sondern vielmehr auch wir selbst unterliegen der Zeitlichkeit und bleiben somit stets Teil unserer eigenen, aber auch einer kollektiven Geschichte und Geschichtlichkeit. Gleichsam so, wie es einst der berühmte Basler Historiker Carl Jacob Burkhardt formulierte: «Geschichte ist das, was wir sind, indem wir es geworden sind». Was wir sind, vor allem aber wie wir es geworden sind, erkennen wir allzu oft in unserem Alltag kaum. Vieles ist und bleibt uns selbst verborgen, anderes wiederum ist verdrängt. Und so hüten wir unser unbekanntes Inneres wie eine Schatzkiste voller Erinnerungen und Erlebnisse, die wir kaum selbst, geschweige denn ein anderer öffnen dürfen.

Es sei denn, wir machen uns mutig und scheu zugleich auf zu einer langen Suche: Auf die Suche nach unseren eigenen verborgenen Geschichten und auf die Suche nach den Geschichten, welche die Welt um uns herum in sich birgt. Und wenn wir es finden, sind wir vielleicht ein wenig verblüfft ob der Einfachheit dessen, was wir in uns und in der Welt vorfinden: Denn wir finden nur den Traum, einfach davonzufliegen, wir finden bloss die Kraft der Sterne und das ebenso vollkommene wie unerreichbare Erscheinungsbild der Himmelsmechanik sowie vielleicht die ferne Schönheit des Mondes. Und unversehens gelangen wir auf diesem verschlungenen Pfad zurück in die Welt unserer eigenen Erinnerung und unserer eigenen Geschichten. Gerade so, als hätte dies alles schon immer offenkundig vor uns gelegen.

Text: Andrin Schütz,
«Eisenplastik: Imaginationen eines vorgefundenen Selbst»
Zürich, 2020

Bild: Treppe, 1995

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